Die „Gelebte Geschichte“ im Freilichtmuseum am Kiekeberg feiert ihr 20-jähriges Jubiläum. Insgesamt 60 Darstellerinnen und Darsteller, darunter sieben Kinder und Jugendliche, sind aktiv dabei. An vielen Wochenenden im Jahr gehen sie abwechselnd in rekonstruierter Kleidung dem Alltag früher nach: als Bauernfamilie 1804, als Fischerfrauen 1904, als Geflüchtete nach dem Zweiten Weltkrieg und als Dorfbewohner der 1950er bis 1970er Jahre – eine Zeit, die noch aus Erinnerungen und Erzählungen bekannt ist.
Interessierte erleben die nächste Zeitreise morgen und übermorgen, am 16. und 17. März von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt ist frei für Personen unter 18 Jahren und Mitglieder des Fördervereins, für Erwachsene kostet er 11 Euro. Mittlerweile sind die vier Zeitabschnitte fester Programmbestandteil, doch im Jahr 2004 zeigte das Freilichtmuseum Pioniergeist, als es die Idee von „Living History“ als eines der ersten deutschen Museen aus den angelsächsischen Ländern, Skandinavien und den Niederlanden übernahm.
„Anfangs hatten andere Museen noch Vorbehalte, dass diese personale Vermittlung nicht wissenschaftlich genug sei. Heute nehmen wir dieses tolle Format als ein Publikumsmagnet mit hoher Qualität wahr“, ist Museumsdirektor Stefan Zimmermann überzeugt. „Wir zeigen ganz bewusst den Alltag im Jahresverlauf, der nicht in den Geschichtsbüchern steht. Besuchende sehen hier zum Beispiel, welche Rollen einzelne Familienmitglieder hatten“, fasst er das Konzept zusammen.
Dr. Julia Daum koordiniert mit Torsten Riebesel, der Theatererfahrung mitbringt, die vier Zeitabschnitte der Gelebten Geschichte. Gemeinsam mit den Darstellern recherchieren sie Quellen, tauschen ihr Wissen aus und kümmern sich um den Fundus an Kleidung und Gerätschaften. „Wir haben viele Kleidungsstücke wie Uniformen von Privatpersonen erhalten. Für das Jahr 1904 findet man noch Aussteuertruhen auf einigen Dachböden.
Manches wird hier zugeschneidert, damit es gut passt. Für das Jahr 1804 nähen wir auch selbst, das ist natürlich mit viel Nachforschung verbunden“, erklärt Dr. Julia Daum. „Wirklich toll ist, dass unsere Darstellenden selbst Handarbeiten und Handwerk mit einbringen. Die Schuhe aus Lindenholz wurden von einem Kollegen während seiner Darstellungen gefertigt“, ergänzt sie. Manchmal reist Julia Daum auch selbst in die 1950er zurück:
Dann bietet sie als Verkäuferin im Textilgeschäft „Gründahl“ in der Königsberger Straße am Kiekeberg den Besuchern Geschirrtücher, Wolle und Strickzeug an. Die 60 Darsteller am Kiekeberg sind von sechs bis 80 Jahre alt. Bei der Reihe „Sonntags im Museum – Königsberger Straße“ führen Beatrix Fernau und ihre Tochter das Dorfleben als Tankwärtin „Elisabeth Koch“ im Familienbetrieb vor.
Als Teil der „Gelebten Geschichte 1949–1969“ hat sie in Teamarbeit ihre Biografie, Namen und Hintergründe selbst erschaffen. Außerdem hat sie eine zweite Rolle als Geflüchtete im Jahr 1945. „Ich bin sehr an Geschichte und an Technik interessiert. Wie viele hier, habe ich in meiner Familiengeschichte einen persönlichen Bezug zu dieser Zeit“, begründet Beatrix Fernau ihr Engagement im Museum.
Eine spannende Zeitreise
So geht es auch anderen Darstellern: Lina Elwers hat sich als Geflüchtete „Lisbeth Braunert“ auf Basis von Erzählungen ihrer Großeltern und Dokumentationen ihre Rolle in der Nissenhütte am Kiekeberg geschrieben. Adrian Schmidt stellt seit vier Jahren den Kriegsheimkehrer „Justus Schoerneberg“ in der „Gelebten Geschichte 1945“ dar.
„Dafür war viel Recherche nötig, aber hier im Museum haben wir das Glück eine Fülle an Quellen zu haben, wie zum Beispiel Tagebücher, Radioaufnahmen und zeitgeschichtliche Dokumente“, zählt er auf. „Ich nehme auch von den Besuchenden etwas mit“, ergänzt er und berichtet von einer Begebenheit, als ihm ein Zeitzeuge auf ein fehlendes Teil am nachgebauten Ofen hinwies.
Von Anfang an und am längsten dabei ist Renate Röttmer bei der „Gelebten Geschichte 1804“. Als „Grootmudder Dora“ (Großmutter Dora) geht sie, wie vor 220 Jahren auf einem Heidebauernhof, ihren Aufgaben nach: Butter stampfen, Gemüse ernten und nach alten Rezepten über dem offenen Feuer kochen sowie Wolle spinnen.
Auf die Frage, wie sie dazu kam, berichtet Renate Röttmer: „Zum ersten Mal hatte ich das Format bei einem Australienurlaub in einem Museum gesehen. Ich fand das toll auf diese Art zu sehen, wie das Leben früher war. Als ich vor 20 Jahren in der Zeitung einen Artikel darüber las, dass das am Kiekeberg eingeführt wird, wollte ich auch zeigen, wie es früher war.“
Ihr weißes und erdfarbenes Kostüm hat sie bei den Vorstellungen selbst gewebt und genäht. In der Rolle ihres Sohnes „Buer Anton“ (Bauer Anton) ist Gerd Peters, der den Kontrast zwischen der modernen Welt und der vergangenen Zeit mag: „Ich komme hier mit dem Elektroauto an, schlüpfe in die Holzpantinen und fühle mich um 220 Jahre zurückversetzt. Nach den Darstellungen bin ich geerdet“
„Es hilft mir auch die jetzige Zeit und ihre Errungenschaften wertzuschätzen. Damals arbeitete man den ganzen Tag nur, um zu überleben.“ Tätigkeiten, die er vorführt, sind unter anderem das Pflügen, Wände mit Lehm ausfachen, Korbflechten und im Winter mit Schafwolle stricken – damals auch für Männer eine typische Aufgabe.
Bente Nielsen ist als „Anni“ seit zehn Jahren bei der damals neuen „Gelebten Geschichte 1904“ eine Fischerfrau in der Elbmarsch. Sie spielt ihre Rolle gemeinsam mit Gesche Lemckau, die im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahrs Denkmalpflege im Museum ihre Nichte „Gesche“ darstellt.
Sie zeigen den Alltag 100 Jahre später, in der die Aufgaben und Rollen von Frauen gleichgeblieben sind – nur der technische Fortschritt zeigt sich, zum Beispiel anhand von elektrischem Licht, Nähen an der Nähmaschine und Kochen am Herd mit Rauchabzug. Am Kiekeberg kommen alle Darsteller mit den Besuchern ins Gespräch und beantworten ihre Fragen.
Bei dem „Gelebte Geschichte“-Wochenende am 16. und 17. März geht es um den Frühjahrsputz in Haus und Hof: typische Reinigungsmittel wie Salz oder Buchenasche, Staub mit Reisigbesen und Gänsefedern entfernen, Wände kalken, „das Silber“ putzen, die Kochstelle reparieren und vieles mehr.
Termine „Gelebte Geschichte 1804/1904/1945“, jeweils 10–17 Uhr
- Sbd/So, 16./17. März
- Sbd/So, 6./7. April
- Sbd/So, 11./12. Mai
- Sbd/So, 8./9. Juni
- Di – Fr, 16.–19. Juli, (nur GG 1804, während „Sommerspaß“)
- Sbd/So, 20./21. Juli
- Sbd/So, 17./18. August
- Sbd/So, 14./15. September
- Sbd/So, 26./27. Oktober, (So: Aktionstag „Gerstensaft und Roggenbrot“)
- So, 10. November („Feuer und Licht“)
Termine „Gelebte Geschichte 1949–1969“, jeweils 11–18 Uhr
- So, 21. April („Sonntags im Museum – Königsberger Straße“)
- Sbd/So, 11./12. Mai („Sonntags im Museum – Königsberger Straße“)
- So, 26. Mai („Sonntags im Museum – Königsberger Straße“)
- So, 2. Juni (Aktionstag „Kreisseniorentag. Abenteuer Alter“)
- So, 16. Juni (Aktionstag „Oldtimertreffen“)
- So, 23. Juni („Sonntags im Museum – Königsberger Straße“)
- So, 29. September („Sonntags im Museum – Königsberger Straße“)
- So, 10. November, (Aktionstag „Feuer und Licht“)
- Fr – So, 29. November bis 1. Dezember (Weihnachtsmarkt des Kunsthandwerks)
- Fr – So, 13. bis 15. Dezember (Weihnachtsmarkt des Kunsthandwerks)
Chronik Gelebte Geschichte im Freilichtmuseum am Kiekeberg
- 2004: Einführung Gelebte Geschichte 1804
- 2014: Einführung Gelebte Geschichte 1904
- 2018: Einführung Gelebte Geschichte 1945
- 2023: Einführung Gelebte Geschichte 1949-69
Tagung
Am Montag und Dienstag, 13. und 14. Mai, führt das Freilichtmuseum zudem eine internationale wissenschaftliche Tagung zum Thema „living history“ mit Referenten aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Nigeria durch. Sie steht allen Interessierten offen, die Anmeldung ist über die Webseite des Museums möglich.
Quelle / Fotos: kiekeberg-museum.de