Sören Friemel über Davis Cup Finals: 23.000 Zuschauer, zwei Nationen, ein Schiedsrichter

Es gibt Momente im Sport, in denen die Atmosphäre so dicht wird, dass sie fast greifbar scheint. Das Rugby-Stadion in Lille im November 2018, 23.000 Zuschauer, die französische Trikolore auf der einen, die kroatische Schachbrettflagge auf der anderen Seite. Zwei Nationen kämpfen um die Davis Cup-Krone, und in der Mitte steht ein deutscher Oberschiedsrichter, dessen Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass sich am Ende nur die sportliche Leistung durchsetzt. „Das kann man sich nicht vorstellen“, sagt Sören Friemel über diese Atmosphäre. „Da kriegt man Gänsehaut.“

Für jemanden, der alle vier Grand Slams, Olympische Spiele und hunderte ATP-Turniere geleitet hat, ist diese Aussage bemerkenswert. Was macht Davis Cup Finals so besonders? Was unterscheidet diese Teamwettbewerbe von der üblichen Tour, auf der dieselben SpielerInnen dieselben Matches spielen? Die Antwort liegt in einer fundamentalen Verschiebung: SpielerInnen treten nicht mehr für sich selbst an, sondern tragen die Hoffnungen ganzer Nationen auf ihren Schultern. Und diese Verschiebung verändert alles.

Wenn Emotionen überkochen: Die einzigartige Dynamik von Teamwettbewerben

„Im Davis Cup kochen die Emotionen hoch“, erklärt Friemel im Gespräch. „Da spielt jeder nicht für sich, sondern für sein ganzes Land.“ Diese scheinbar simple Beobachtung hat weitreichende Konsequenzen für jeden, der mit der Leitung solcher Events betraut ist. Bei einem normalen ATP-Turnier mag ein Spieler enttäuscht sein, wenn er verliert. Bei einem Davis Cup Final trägt er die Enttäuschung einer ganzen Nation.

Die Situation im Jahr 2016 in Kroatien  gegen Argentinien illustriert die Herausforderung perfekt. „Wir hatten in der Zagreb Arena direkt hinter uns die 3.000 argentinischen Fans“, erinnert sich Friemel. „Wenn man gegen die eine Entscheidung getroffen hat, dann haben sie uns ausgebuht und uns angeschrien. Und wenn sie für die waren, haben sie uns Herzchen gezeigt.“ Diese emotionale Achterbahnfahrt in Echtzeit zu erleben, während man gleichzeitig absolute Neutralität wahren muss, stellt außergewöhnliche Anforderungen an die psychologische Belastbarkeit.

Sören Friemel über Davis Cup Finals: 23.000 Zuschauer, zwei Nationen, ein Schiedsrichter

Davis Cup Finals: 23.000 Zuschauer, zwei Nationen, ein Schiedsrichter / (c) pixabay.com

Man stelle sich vor: 3.000 Menschen jubeln oder buhen gleichzeitig, abhängig von einer Entscheidung, die man in Sekundenbruchteilen treffen muss. Die visuelle Bestätigung oder Ablehnung ist unmittelbar und unvermittelt. Herzchen in die Luft gezeichnet, wenn man „richtig“ entschieden hat aus Sicht einer Fangruppe. Wutgebrüll und Pfiffe, wenn die Entscheidung gegen sie ausfällt. Und das alles, während die Regeln natürlich für beide Seiten absolut gleich gelten müssen.

Diese Dynamik unterscheidet sich fundamental von Grand Slams, wo das Publikum zwar groß ist, aber typischerweise aus einer Mischung von Fans verschiedener SpielerInnen besteht. Bei Davis Cup Finals gibt es diese Durchmischung nicht. Es ist ein Battle zwischen zwei klar definierten Lagern, und die Grenze verläuft nicht zwischen individuellen Fangruppen, sondern zwischen Nationen.

Gent 2015: Führung unter Sicherheitsbedenken

Die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen beim Davis Cup Finale 2015 in Gent zwischen Belgien und Großbritannien brachten eine zusätzliche Dimension. Nach den Terroranschlägen von Paris herrschte angespannte Stimmung. Die Flanders Expo, normalerweise für 13.000 Zuschauer ausgelegt, wurde zur Hochsicherheitszone. „Das Thema Sicherheit ist natürlich riesig groß, auch ich als Oberschiedsrichter bin involviert“, erklärt Friemel. „Es werden verschiedene Szenarien durchgesprochen, man weiß ja nie, was passiert.“

Taschen und Rucksäcke waren verboten. Ein Großaufgebot der Polizei mit Spürhunden war im Einsatz. Die ursprünglich für eine Musikarena geplante Auslosung wurde direkt am Spielort durchgeführt. Selbst das offizielle Dinner fand vor Ort statt statt an einem separaten Veranstaltungsort. „Aber wir fühlen uns hier sicher, es ist ruhiger als erwartet“, versuchte er Normalität zu vermitteln, während im Hintergrund Mitglieder des belgischen Königshauses zur Eröffnungsfeier erwartet wurden.

Die Herausforderung bestand darin, trotz dieser außergewöhnlichen Umstände eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich beide Teams auf den Sport konzentrieren konnten. Andy Murray sollte Großbritannien zum ersten Titel seit 1936 führen. Belgien hatte die Chance auf den ersten Titel überhaupt in der Geschichte des Landes. Der sportliche Einsatz war immens, die Sicherheitslage angespannt, die emotionale Aufladung maximal.

„Auch wenn man den Beteiligten beider Mannschaften anmerkt, dass es für sie vielleicht die größte Chance in ihrem Leben ist, den Davis Cup zu gewinnen“, beobachtete Friemel. „Die Spannung ist höher.“ Diese Spannung zu managen, während gleichzeitig Sicherheitsprotokolle eingehalten werden müssen und die Integrität des Wettbewerbs gewahrt bleiben soll, erfordert ein außergewöhnliches Maß an Koordination und Führungsstärke. Seine Organisation im Spitzensport demonstriert, wie systematische Vorbereitung selbst in außergewöhnlichen Situationen Stabilität schafft.

Lille 2018: Der Höhepunkt einer Ära

Das Davis Cup Finale 2018 zwischen Frankreich und Kroatien in Lille stellte den Höhepunkt und gleichzeitig das Ende einer Ära dar. Es war das letzte Finale im traditionellen Format, bevor die umstrittene Reform des Wettbewerbs in Kraft trat. 23.000 ZuschauerInnen im Rugby-Stadion, eine Atmosphäre, die selbst erfahrene Offizielle überwältigte.

„Ich glaube, es gibt eigentlich nichts Besseres als die Stimmung“, schwärmt Friemel über diese Finals. Die Lautstärke, die Emotionalität, die schiere Energie von zehntausenden Menschen, die gemeinsam für ihr Land anfeuern, schafft eine Intensität, die in individuellen Turnieren nicht existiert. Selbst ein ausverkauftes Centre Court in Wimbledon oder die Rod Laver Arena bei den Australian Open können diese kollektive nationale Identifikation nicht replizieren.

Es ist der Unterschied zwischen vielen individuellen Hoffnungen und einer kollektiven nationalen Hoffnung. Bei einem Grand Slam Final jubeln Federer-Fans, Nadal-Fans, neutrale ZuschauerInnen, die einfach gutes Tennis sehen wollen. Bei einem Davis Cup Final gibt es keine neutralen ZuschauerInnen. Jeder im Stadion hat ein klares Interesse, und dieses Interesse ist nicht an eine Einzelperson gebunden, sondern an eine Nation.

Die sportliche Leistung der SpielerInnen erreicht unter diesen Bedingungen oft außergewöhnliche Höhen. „Die Spieler sind noch anders motiviert als beim normalen Turnier, weil sie es vielleicht auch wissen, dass es vielleicht eine einmalige Chance in ihrem Leben ist, so einen Davis Cup zu gewinnen“, analysiert Friemel. Diese Motivation überträgt sich auf jeden Aspekt des Wettbewerbs, einschließlich der Anforderungen an die Offiziellen.

Die Vermissten: Warum das alte Format unersetzlich war

Wenn Friemel über die Reformierung des Davis Cup spricht, hört man eine Mischung aus Verständnis und Wehmut. „Ich kann in gewisser Weise auch nachvollziehen, dass das Format geändert wurde“, räumt er ein, verweist auf die Schwierigkeiten der Terminplanung und die Herausforderung, Top-SpielerInnen für alle Runden zu gewinnen. „Nichtsdestotrotz die Finals die… Die vermissen, ich glaube, die Spieler, Fans und sicherlich auch die Organisatoren.“

Diese Finals waren nicht nur sportliche Höhepunkte, sondern kulturelle Ereignisse. Die Atmosphäre, die in Lille, Zagreb oder Gent entstand, lässt sich nicht künstlich in einem neutralen Veranstaltungsort mit gemischtem Publikum reproduzieren. „Das Ganze drumherum, das so aufzubauen, ist sicherlich nicht so ganz so einfach“, gibt er zu. Aber genau dieses „Ganze drumherum“ – die nationale Identifikation, die emotionale Intensität, die Einzigartigkeit der Atmosphäre – machte diese Finals zu etwas Besonderem.

Für Friemel persönlich waren diese Jahre als Oberschiedsrichter bei Davis Cup Finals Karrierehöhepunkte. Die Kombination aus sportlicher Exzellenz, emotionaler Intensität und organisatorischer Komplexität stellte die ultimative Herausforderung dar. „Das ist schon Wahnsinn“, fasst er die Erfahrung zusammen. „Die Emotionen dann auch wahrscheinlich komplett überkochen.“

Lektionen für Führung unter extremem Druck

Was lässt sich aus diesen Erfahrungen für Führung in anderen Hochdrucksituationen lernen? Erstens: Emotionale Intelligenz ist genauso wichtig wie fachliche Kompetenz. Die Regeln zu kennen reicht nicht, wenn 23.000 Menschen emotional investiert sind. Man muss die Dynamik verstehen, die Stimmung lesen können, wissen, wann Strenge nötig ist und wann ein menschlicher Moment die Situation entschärft.

Zweitens: Vorbereitung schafft Gelassenheit. Die Sicherheitsszenarien in Gent durchzusprechen, die Kommunikationswege zu klären, die Rollen aller Beteiligten zu definieren, das alles geschieht lange bevor der erste Ball gespielt wird. Wenn dann tatsächlich eine Krise eintritt, existieren bereits Protokolle und Vertrauensbeziehungen.

Drittens: Authentizität gewinnt langfristig. Friemel versucht nicht, die Emotionen zu unterdrücken oder so zu tun, als wäre ein Davis Cup Final ein gewöhnliches Match. Er erkennt die Einzigartigkeit an, respektiert die Intensität, lässt sich aber in seiner Urteilsfindung nicht davon beeinflussen. Diese Balance zwischen Empathie und Objektivität definiert reife Führung.

Heute wendet Sören Friemel diese in Lille, Zagreb, Gent und anderen Davis Cup Finals erworbenen Fähigkeiten in leitender Position bei einem führenden globalen Sportunternehmen an. Die Koordination komplexer Events, das Management emotionaler Stakeholder, die Aufrechterhaltung von Standards unter extremem Druck – diese Kompetenzen übertragen sich nahtlos vom Tennisplatz ins Geschäftsleben. Sein Gespräch über seine Karriere gibt tiefe Einblicke in die Entwicklung dieser Führungsprinzipien.

Die 23.000 ZuschauerInnen mögen durch andere Stakeholder ersetzt werden, die zwei Nationen durch konkurrierende Geschäftsinteressen. Aber die Grundprinzipien bleiben: Vorbereitung, emotionale Intelligenz, kompromisslose Fairness und die Fähigkeit, auch dann klar zu denken, wenn alle anderen von Emotionen überwältigt werden. Das ist die Essenz von Führung unter Druck, ob im Rugby-Stadion in Lille oder im Konferenzraum eines Unternehmens. Weitere Einblicke in seine Arbeit zeigen, wie diese Prinzipien in verschiedenen Kontexten angewendet werden.

Quelle / Foto: (c) planet_fox by pixabay

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